Staatszerfall. Überlegungen zu einem schwer greifbaren Konzept (I/III)

Staatszerfall bedeutet das Verschwinden der legitimen Autorität des Staatsapparates und die Aufhebung des Weberschen Monopols der legitimen Ausübung von Gewalt. Es äußert sich im Nichtvorhandensein politischer (öffentlicher) Güter aufgrund mangelnden Willens oder Unfähigkeit des Staates diese zur Verfügung zu stellen. Die politischen Güter verhalten sich laut Rotberg untereinander hierarchisch, an der Spitze steht dabei Sicherheit (Staatssicherheit und menschliche Sicherheit), garantiert durch das Gewaltmonopol des Staates. Weitere elementare, querschnittsartige Güter sind Rechtsstaatlichkeit, Partizipation und Bürgerrechte. Konkrete Felder umfassen Gesundheits- und Sozialsysteme, Bildungseinrichtungen, Infrastruktur (Straßen, Elektrizität, Wasser), Kommunikationsmittel, Regeln zur Nutzung von Allgemeingütern sowie ein gleichheitlich ausgerichtetes Wirtschaftssystem. Bloßes Vorhandensein und tatsächliche Zugangsmuster zu den Gütern sind gleichermaßen relevant. In dieser Reihenfolge geordnet, lässt sich messen, wie stark oder schwach ein Staat ist, je nachdem, wie er in den unterschiedlichen Bereichen abschneidet. Es gibt strong, weak, failing, failed und collapsed states, je nachdem wie stark oder weitläufig der Zerfall eines Staates vorangeschritten ist. Der Grad des Staatszerfalls orientiert sich dabei am aggregierten Versagen eines Staates in mehreren oder allen Bereichen wobei die in der Hierarchie obenstehenden Bereiche, insbesondere Sicherheit, sich stärker auf das Gesamtbild ausprägen. Unsicherheit und Gewalt sind meist in schwachen Staaten zu beobachten, im Gegensatz zu zerfallenen oder kollabierenden Staaten können schwache Staaten aber durchaus nach außen stark erscheinen. Indikatoren für schwache Staatlichkeit können folgende sein: BIP, CPI, Gini-Index, Alphabetisierung, Kindersterblichkeit, Freedom House Index, Kriminalität, HDI und ähnliche. Foreign Policy und Fund for Peace veröffentlichen seit einigen Jahren den Failed States Index, der als einer der detailliertesten Indizes für Staatlichkeit gilt. Er misst folgende Indikatoren (sozialer, wirtschaftlicher und politisch-militärischer Natur) und erstellt einen Gesamtwert: Demographischer Druck, Flüchtlinge/IDPs, Benachteiligung von Bevölkerungsruppen, Exil/Brain-Drain, Armut und wirtschaftlicher Abschwung, staatliche Legitimität, Sozialleistungen und Infrastruktur, Bedrohung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, Sicherheitsapparat als Staat im Staat, Machtkonzentration und externe Intervention. Subsahara-Afrika schneidet schlecht ab. Unter den Top 10 weltweit sind derzeit sieben dieser Staaten: Somalia, Tschad, Sudan, DR Kongo, Simbabwe, Zentralafrikanische Republik und Côte d’Ivoire.

Die verschiedenen Stufen von Staatszerfall sind als dynamische, also nicht als statische oder unilineare Kategorien zu verstehen. Laut Vlassenroot et al. kann neben dem Zerfall klassischer Ordnungsstrukturen eine kreative Neuinterpretation von Ordnung entstehen, an der sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure beteiligt sind. Im Extremfall mündet dies in eine „nichtstaatliche“ oder „vermittelte“ Staatlichkeit. Staatszerfall tritt empirisch hauptsächlich in jüngeren, oft postkolonialen Staaten auf ohne dass dies einen kausalen Zusammenhang bedeutet. Dennoch sind diese Staaten im Gegensatz zu langsam, oft aus Kriegen und einhergehenden Entstehung von Nationalstaaten gewachsenen Systemen als Resultat einer ad hoc realisierten Staatlichkeit ehemaliger Kolonien zu betrachten. Die Kolonien hatten, abgesehen von ihrer kolonialen Pseudostaatlichkeit, keine legitime Basis für den legal-rational geprägten Staat. Seit der Dekolonisierung Subsahara-Afrikas wurde das Fehlen der Basis für Staatlichkeit extern abgefedert und im Rahmen des Kalten Krieges dysfunktionale Staaten militärisch und finanziell im Gegenzug für Loyalität gestützt. 1990 brach dieses System zusammen und bereits schwache Staaten zerfielen oder kollabierten. Darüber hinaus verstärkten technische und logistische Globalisierung bestehende zentrifugale Tendenzen. Neuere Entwicklungen in punkto Demokratieförderung und good governance sind bislang Gegenrezept der internationalen Gemeinschaft, bleiben jedoch nachhaltige Wirkung schuldig.

Das von Bayart entwickelte Theorem der „politics of the belly“ beschreibt die Akkumulation von Gütern durch die Ausübung öffentlicher Ämter und kann als (teilweise) Erklärung für Staatszerfall dienen. Der Begriff geht zurück auf ein Sprichwort aus Kamerun und bezieht sich auf die familiären Netzwerke auf denen Politik in Afrika oft basiert, sowie die Korpulenz sogenannter „big men“. Korruption entsteht laut Bayart durch die erzwungene Zusammenführung verschiedener Governance-Systeme aus präkolonialer und kolonialer Zeit. In der präkolonialen Zeit basierte Legitimität auf der Person des Herrschers und dessen Klientelnetzwerk. In der Kolonialzeit basierte sie jedoch auf dem Gewaltmonopol der kolonialen Administration, nicht aber, wie im westfälischen Staat üblich auf der Staatssouveränität und Legitimierung des Staats durch öffentliche Güter und Rechtsstaatsprinzipien. Daraus entstand im postkolonialen afrikanischen Staat eine Mischform. Es entwickelten sich „Extraversionsstrategien“ mithilfe derer die Machthaber in afrikanischen Staaten denselben zur privaten Akkumulation nutzten und dabei vom Handel mit internationalen Partnern profitierten. In Abwesenheit von Produktivwirtschaft entwickelten sich staatliche Ämter zur Quelle wirtschaftlicher Ressourcen wie Rohstoffen und Auslandshilfe. Zugleich werden institutionelle Ressourcen für private Zwecke missbraucht (Zölle, Steuern) und der Staat wird zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung von Patronagesystemen und informellen Wirtschaftsbeziehungen missbraucht. Bayart begreift in diesem Zusammenhang wertneutral Korruption als komplexes Modell der Regierungsführung in weiten Teilen Afrikas, welche sich anhand einer wurzelartigen Struktur aufbaut. Das Modell förderte in präkolonialer Zeit in ursprünglicher Form das Wohl der Gesellschaft, im Kontext des (erzwungenen) bürokratischen Modells und der Kriminalisierung des Staates wirkt es jedoch zerstörerisch auf das institutionelle Gefüge eines Staates. Statt einer legal-rationalen Doktrin herrscht Neopatrimonialismus.

Reno entwickelte den Begriff „shadow-statehood“ um zentrale Elemente und Dynamiken im Bereich des Staatszerfalls beschreiben, mit einem Fokus auf die Beziehung zwischen Politik und Korruption. Dabei handelt es sich um das Phänomen, dass Privatpersonen den juridisch souveränen Staat zu einer Fassade aushöhlen, hinter der private Netzwerke die Ressourcen des Staates zu ihren Zwecken nutzen und jenen damit dysfunktional für die Gesamtbevölkerung werden lassen. Im „shadow state“ existiert daher für jede Funktionseinheit ein offizieller Amtsträger, während im Hintergrund die jeweilige Funktionseinheit inoffiziell anderweitig besetzt ist. Diese Staaten zeichnen sich durch völkerrechtliche Souveränität aus, besitzen aber oft weder westfälische noch innere Souveränität. Sie sind neopatrimonial statt legal-rational organisiert, da es de facto keine Aufteilung des öffentlichen und privaten Raumes gibt. Statt Ressourcen nach festen Regeln und Bedürfnissen zu verteilen, geschieht die Distribution durch hinter der Fassade befindliche Netzwerke, basierend auf verwandtschaftlicher Patronage (Nepotismus) und politischer Patronage (Klientelismus). Willkürliche Gewalt und ein fehlender Rechtsstaat sind zentrale Elemente einer solchen Ordnung, der Zugang zu Ressourcen wird dadurch von den Herrschenden kontrolliert. Es liegt im Interesse der Herrschenden, die Bevölkerung gegeneinander auszuspielen, um Rebellionen vorzubeugen. Diese Dynamik tritt mit der schwindenden Legitimität des Staats in einen Kreislauf. Das logische Komplement zum „shadow state“ sind die „warlord politics“ seitens der nichtstaatlichen Akteure in einem Territorium. Korrupte Diktatoren und grausame Kriegsherren erschaffen Gewaltmärkte als Arena der Güterverteilung.

Chabal/Daloz haben das Paradigma der „instrumentalisation of disorder“ geprägt. Dabei gehen sie davon aus, dass die bei Reno beschriebene Schwächung staatlicher Institutionen durch die gedoppelte privat-öffentliche Funktion die Grundlage für involvierte Individuen und Netzwerke ist, innerhalb des gesamtwirtschaftlichen Versagens dennoch Profit zu erwirtschaften. Dies wird möglich, da die Bürokratie schwach ausgeprägt ist, eine gebildete und handlungsfähige Zivilgesellschaft nicht gewollt ist und kaum existiert. Die Hierarchie der sozialen Netzwerke verhält sich entgegengesetzt zur Funktionslogik der staatlichen Institutionen. Gleichzeitig findet eine Hybridisierung globalisierter und lokaler Kultur statt, die zu einer Re-Traditionalisierung der Gesellschaft führt. Politik und Wirtschaft setzen diese Hybridisierung für ihr unternehmerisches Handeln ein, so bei Wahlen. Unordnung ist dabei nicht per se Unordnung, sondern als andere Art von Ordnung in Abwesenheit der legal-rational geprägten staatlichen Ordnung im Sinne Webers zu verstehen. Sie wird aufrechterhalten, da sie zu einer Ressource für die Herrschenden im neopatrimonialen  System geworden ist. Dies bedeutet, dass im Staats- und Gesellschaftsgefüge keine Entwicklung auf breiter Basis stattfindet und sich somit lediglich Modernisierung statt Entwicklung vollzieht. Es besteht zudem aufgrund der globalisierten Natur der politischen Bündnisse und wirtschaftlichen Optionen sowie klientelistischen Strukturen kein Legitimationsbedarf gegenüber der Binnenbevölkerung mehr. Hierdurch kann die Elite auf Kosten des allgemeinen Wohlstandes ihre Machtposition aufrechterhalten, da die Güterverteilung auf der Basis von physischer Macht beruht, die in einem vertikalen Patronagesystem jeweils gegen Loyalität umverteilt werden und somit das System stabilisiert. Dennoch bieten solche Systeme manchmal Anreize für alle Gruppen der Bevölkerung, auch wenn dies zum Teil nur mangels Alternativen so ist. Mit ihrem Konzept wenden sich die Autoren sowohl gegen gängige eurozentristische, oft neoliberale Ansätze, aber auch gegen Generalisierungen im Stil der „politics of the belly“ und propagieren in Anlehnung an Max Weber eine Analyse auf Basis objekt- statt subjektbezogener Rationalität.

Literatur:

Bayart, Hibou, Ellis (1999): The Criminalization of the State in Africa. James Currey, Oxford.

Berdal, Malone (2000): Greed and Grievance. Economic Agendas in Civil Wars. Lynne Rienner, Boulder.

Chabal/Daloz (1999): Africa Works. Disorder as a Political Instrument. James Currey, Oxford.

Fund for Peace (2005-2011): Failed States Index. http://www.fundforpeace.org/global/?q=fsi.

Reno (1998): Warlord Politics and African States. Lynne Rienner, Boulder

Rotberg (2004): When States Fail. Causes and Consequences, Princeton University Press, Princeton.

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