Zum Spannungsfeld von Staatssouveränität und Responsibility to Protect (R2P) (III/III)

In Fortsetzung der Essays zu Staatszerfall und Bürgerkriegen soll nun das Spannungsfeld zwischen Souveränität und R2P dargelegt werden.

Souveränität bezeichnet die höchste, nach innen und außen unabhängige staatliche Herrschaftsmacht und Entscheidungsgewalt, in anderen Worten die Ausübung eines legitimen Gewaltmonopols durch den Staat. Innere Souveränität heißt, dass die Staatsgewalt über sämtliche Hoheitsrechte verfügt und durch die Volkssouveränität sowohl legitimiert als auch begrenzt ist. Äußere Souveränität (auch Staatssouveränität) bedeutet im Völkerrecht (von jeglicher Fremdherrschaft freie) Unabhängigkeit und (ohne Rücksicht auf wirtschaftliche, militärische oder sonstige Stärken und Schwächen) Gleichheit der Staaten. Als Völkerrechtssubjekt genießt jeder Staat de jure Souveränität. Weiterhin lässt sich Souveränität nach Krasner in vier Bereiche aufteilen: Interdependenzsouveränität (Macht über Grenzen: Kontrolle), innere Souveränität (Gewaltmonopol/Staatliche Ordnung: Autorität und Kontrolle), völkerrechtliche Souveränität (Anerkennung/Vertragsfähigkeit: Autorität) und westfälische Souveränität (Nichteinmischung: Autorität). Es gibt viele weitere Ansätze, Souveränität zu definieren und konzeptualisieren, z.B. über Fähigkeiten, oder Legitimität. So definierte Carl Schmitt Souveränität als Verfügen über den Ausnahmezustand.

Die Responsibility to Protect ist ein Konzept zum Schutz vor schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts. Sie wurde maßgeblich von ICISS in den Jahren 2000/2001 entwickelt und international verbreitet, wenngleich sich ihre wesentlichen Züge bereits seit längerem in der politischen und rechtlichen Diskussion befanden. 2005 wurde sie einstimmig durch die UN-Vollversammlung anerkannt und in Resolution 1674 des UN-Sicherheitsrats erstmals in einem völkerrechtlich verbindlichen Dokument erwähnt. Kritiker wenden ein, dass mit der R2P das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates ausgehebelt werde, das in der UN-Charta als Rechtsprinzip verankert ist. Befürworter der Norm argumentieren, dass die R2P einen historischen Schritt zur Verhinderung schwerster Massenverbrechen darstelle.

R2P trifft zunächst den Einzelstaat und beschreibt seine Pflicht, das Wohlergehen der ihm unterstellten Bürger zu gewährleisten. Bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung wird er von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt, der eine subsidiäre Schutzverantwortung zukommt. Ist jedoch die politische Führung des jeweiligen Staates nicht fähig oder willens, die Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, darf die internationale Staatengemeinschaft, vornehmlich die UN, zum Schutz der bedrohten Bevölkerung eingreifen. Dazu stehen ihr nach Maßgabe der Charta der UN zivile und militärische Mittel zur Verfügung, über deren Einsatz der Sicherheitsrat entscheidet. Grundlage ist die Definition von Souveränität als Verantwortung, wonach ein Staat Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung übernehmen muss. R2P hilft damit, Moralvorstellungen zum Schutz des Menschen international zu verwirklichen. Sie gliedert sich in drei Teilbereiche: die Responsibility to Prevent, Responsibility to React und Responsibility to Rebuild. Von humanitärer Intervention unterscheidet sich R2P, da Interventionen nicht gerechtfertigt werden müssen und als letzter Ausweg quasi zur Pflicht werden. Hinzu verfolgt R2P durch die Dreiteilung einen weitergehenden Ansatz als humanitäre Intervention.

Das Regelwerk von R2P steht in Kontrast zu traditionellen Souveränitätsvorstellungen, wie dem Nichteeinmischungsrecht (auch nach Inkrafttreten von R2P noch in der UN Charta verankert). Besonders schwächere, weniger entwickelte Staaten, oft mit kolonialer Vergangenheit, tendieren laut Luck dazu, Souveränität in einem territorialen Verständnis zu interpretieren und sind daher teils widerwillig R2P zu implementieren. Im Diskurs herrscht daher ein Nord-Süd-Gefälle, wobei Staaten wie China und Russland (als P5-Vertreter) hier eher auf der Seite des Südens sind. Die Problematik zwischen R2P und Souveränität zeigt daran, dass R2P sich „nur“ auf Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnische Säuberungen bezieht – zu einem weiteren Feld hätte es vermutlich keinen Konsens gegeben. Dennoch ließe sich innere Souveränität mit R2P vereinbaren, wenn man eine Verantwortungsfunktion impliziert. Problematisch wäre R2P jedoch im Kontext der Autoritätsfunktion des Staates. Interdependenzsouveränität und völkerrechtliche Souveränität sind durch R2P prinzipiell nicht betroffen. Jedoch kann die R2P unter Umständen mit der westfälischen Souveränität konfligieren. Das derzeit größere Dilemma in den internationalen Beziehungen ist in diesem Kontext aber das Ungleichgewicht von Macht und die resultierende Ungleichbehandlung von Verstößen gegen Menschenrechte, die ohnehin manchmal Auslegungssache sind, bei der R2P ein gewisses Verzerrungspotential zukommt (Libyen versus Syrien?). Zugleich besteht für stärkere Staaten die Gefahr, zu multilateralen Interventionen verpflichtet zu werden.

Es gibt zahlreiche Gegner, wie Unterstützer aber auch Skeptiker bzgl. R2P, wie MacFarlane et al. illustrieren. Die Gründe der Gegner sind dabei folgende: Die Implementierung von R2P gleiche einem Quasi-Kolonialismus der stärkeren gegenüber den schwächeren Staaten im Sinne der „mission civilisatrice“. Weiterhin ist durch die derzeitige Implementierungsweise (durch den Sicherheitsrat) die Durchführung von R2P zwar legal aber nicht unbedingt legitim, was ihre Zukunft als Doktrin politisch schwer vermittelbar macht. Die Skeptiker stehen in der Mitte: Ihnen zufolge, ist R2P zwar von richtigen Gedanken geleitet, greife aber die zugrundeliegenden Probleme, wie die Frage nach der Autorität und operationeller Kapazität nicht auf. Ein weiteres Dilemma, dass R2P in seiner derzeitigen Gestalt nicht lösen könne, sei der mangelnde politische Wille, der sich in der Selektivität der bisherigen R2P-Fälle zeigt. Die Befürworter der R2P halten mit ethischen und moralischen Argumenten dagegen und verweisen darauf, dass das Konzept inkrementell wachsen muss und nicht sofort alle Probleme gelöst werden können. Regional ist das Stimmungsbild ebenfalls interessant: Während in Europa, den Amerikas (außer USA), Subsahara-Afrika und Asien (außer Russland, China) das Konzept vorherrschend begrüßt wird, sind die USA, China, Russland, sowie die arabische Welt zumindest in Einzelpunkten sehr reserviert. Seit Entwicklung (2001) und Bestehen (2005) der Norm hat es zudem zahllose Fälle gegeben in denen weder Vorsorge, Eingriff noch Nachsorge im Sinne der R2P betrieben wurden. Dies ist sowohl politischem Kalkül als auch operativer Unfähigkeit anzulasten.

In der Côte d’Ivoire ließ sich eine regierungskritische UN-Mission (ONUCI) erkennen, R2P wurde von dieser gemeinsam mit der französischen Armee strikt, aber einseitig interpretiert: Gbagbo und Ouattara setzten sich in der ersten Runde gegen Bédié und weitere Kandidaten durch und gingen in die Stichwahl. Die durch Ouagadougou etablierte und mit der Durchführung beauftragte unabhängige Wahlkommission CEI, die zum Großteil aus Vertretern der Opposition zusammengesetzt war, veröffentlichte in dessen Beisein vorläufige Ergebnisse zugunsten von Ouattara. Daraufhin legte Gbagbo Beschwerde beim regierungsnahen Verfassungsrat ein. Eine Prüfung in nördlichen Wahlbezirken (in denen laut Human Rights Watch kaum Beobachter zugelassen waren) gab ihm Recht: Die Wahl wurde teilannulliert, das Ergebnis zugunsten Gbagbos geändert. Die UN (damit auch Ouattara) missachteten durch die unmittelbare Zertifizierung der Ergebnisse der CEI ivorisches Recht. Da sie dieses laut UN-Charta §2 respektieren müssen, brachen sie ebenfalls internationales Recht. Da die ivorische Verfassung eine teilweise Annullierung nur im Sonderfall zulässt, brach aber auch Gbagbo geltendes Recht. Es folgten gewalttätige Übergriffe. Während Ouattaras Streitkräfte Gbagbos Armee angriffen, zielten die Attacken der Gbagbo-Seite auf Ouattaras Partei und die ONUCI. Ouattara verlangte, während die Kämpfe sich ausdehnten, auf internationaler Ebene eine militärische Intervention. Sowohl UN als auch ECOWAS drohten mit einer solchen, die jedoch letztlich nicht zustande kam. In Abwehr zur internationalen Einmischung bemühte Gbagbo einen immer kriegerischeren Diskurs und intensivierte seine militärischen Offensiven. Anfangs war er strategisch im Vorteil, da ihm Armee und Staatsapparat zur Verfügung standen, ab Februar 2011 griffen aber die internationalen Sanktionen und immer mehr Gbagbo-Soldaten desertierten sodass sich das Blatt wendete. Im Laufe weiterer Offensiven gelang es Ouattara nach und nach das ganze Land zu erobern, Gbagbo in die Enge zu treiben und schließlich im April mit französischer Hilfe in Abidjan zu fassen.

Umgekehrt ist die UN-Mission in der DR Kongo (MONUC/MONUSCO) sehr regierungsfreundlich. So wurde stellvertretend für die Regierung bei den Konflikten in Dongo 2009 und Goma 2008 gegen Rebellen gekämpft. In den vergangenen Jahren stehen außerdem zahlreiche gemeinsame oder logistisch unterstützte Feldzüge mit der Regierungsarmee FARDC zu Buche, meist gegen die Rebellengruppen FDLR oder CNDP gerichtet: Kimia II (2009) und Amani Leo (2010). Im Rahmen der Militäroperationen ist es jedoch nicht gelungen, genügend Einfluss auf die kongolesische Armee auszuüben, um etwa Menschenrechtverletzungen zu minimieren oder militärische Erfolge bei der Zerschlagung von Rebellengruppen zu erreichen. Stattdessen sind immer wieder Vorwürfe zu hören, dass MONUSCO mit der FARDC lediglich eine Konfliktpartei unter vielen unterstützt, um sich zugleich nebenbei selbst Menschenrechtsverletzungen zuschulden kommen zu lassen und aktiv am Rohstoffreichtum der DR Kongo zu bedienen. Die DR Kongo ist ein klarer Fall des Unvermögens. Zum einen hat die größte aktive UN-Mission nicht die personellen und technischen Kapazitäten, ihren Schutzauftrag gegenüber der Bevölkerung zu erfüllen. Zudem hindern interne Sicherheitsmaßnahmen die Blauhelme (nachvollziehbarerweise) oft daran, selbst ihre bestehenden Kapazitäten voll auszunutzen. Im Ergebnis zeigt sich eine hohe Konzentration von UN-Militär in Städten wie Kinshasa, Goma oder Bukavu, während Vergewaltigung und Mord in der Peripherie geschehen.

Letztendlich bleibt der Themenkomplex Staatssouveränität, R2P, humanitäre Intervention und Schutz von Zivilisten ein kompliziertes, da emotionalisiertes und international unzureichend geordnetes Feld. Zumeist ist es, gleich ob in genuinen R2P-Fällen wie Libyen oder in Kontexten einer bestehenden UN-Mission, nicht klar zu sagen, ob die durch R2P und das humanitäre Völkerrecht katalogisierten Imperative des Zivilistenschutzes erstens operativ durchgesetzt und zweitens politisch priorisiert werden. Die meisten Fälle zeigen hier ein negatives bis gemischtes Bild in der Implementierung und im Ergebnis während Mandatierungen und Diskursverläufe jedoch jüngst eher hoffnungsvoll stimmen könnten.

Ausgewählte Literaturempfehlungen:

Bellamy, Alex J./Williams, Paul D. (2011): The new politics of protection? Côte d’Ivoire, Libya and the responsibility to protect. International Affairs, Vol. 87, Nr. 4, S. 825–850.

Evans, Gareth (2006): From Humanitarian Intervention to the Responsibility to Protect. Wisconsin International Law Journal, Vol. 24, Nr. 3, S 703–722.

Krasner, Stephen D. (2001): Problematic Sovereignty, in: Ders. (Hrsg.): Problematic Sovereignty. Contested Rules and Political Possibilities. Columbia University Press, New York, S. 1–23.

Luck, Edward (2009): Sovereignty, Choice, and the Responsibility to Protect. Global Responsibility to Protect Vol. 1, Nr. 1. Brill, Leiden, S. 10–21.

MacFarlane, S. Neil/Thielking, Carolin J./Weiss, Thomas G. (2007): The responsibility to protect: is anyone interested in humanitarian intervention? Third World Quarterly, Vol. 25, Nr. 5, S. 977–992.

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